Klavierstimmen

Ein sanfter Druck genügt - Pianissimo - um die komplexe Mechanik in Gang zu bringen. Über den Waagebalkenstift wird diese Bewegung fortgetragen zur Pilote, und über das Hebeglied an Repetierschenkel und Stoßzunge, die wiederum den Hammerstiel mitnimmt, an dessen Ende der Hammerkopf sitzt, der 44 Millimeter nach oben geführt wird und schließlich die letzten zwei Millimeter zur Saite nur Kraft des eigenen Schwungs zurücklegt. Inzwischen hat sich der Dämpfer leicht gehoben, um - wenn der Hammerkopf die Saite trifft - jenen Ton frei zu geben, der ganze Konzertsäle erobern kann.

Den verzweigten Weg des Tons vom Anschlag bis zur Saite zu verfolgen, wie die insgesamt 69 Teile einer Klaviertaste präzise zusammenspielen, ist richtig spannend.

Schnelle Tasten, sanfte Fänger, guter Klang.

Die Produktion eines Instrumentes dauert viele Wochen. Die letzten Hände, durch die es geht, sind die eines Klavierbauers/-stimmers. Er überprüft noch einmal die Regulierung, er perfektioniert - zum wiederholten Mal - die Stimmung, um in einem letzten, aber alles entscheidenden Schritt den Klangcharakter des Klaviers herauszuarbeiten.

Das Regulieren der Mechanik schafft die Basis für den guten Ton. Wenn der Klavierstimmer die Tastatur aus einem Flügel zieht und prüft, ob alle bewegten Teile auch exakt zusammenarbeiten (und ein Klavier besteht im Grunde nur aus bewegten Teilen), erinnert er mit seiner Arbeit an einen Arzt der alten Schule, der mit genauem Blick, sensiblen Händen und aufmerksamen Ohren seinen Patienten untersucht

Kein Detail wird ausgelassen, die exakte Ausrichtung der Saiten und Dämpfer wird ebenso kontrolliert wie die Führung der Tasten. Die müssen beispielsweise bei einem Gewicht von 52 Gramm sinken und andererseits ein Aufgewicht von 23 Gramm besitzen. Sonst ist die Taste zu langsam und der Pianist verliert den Kontakt zu ihr. Darüber hinaus ist die Gleichmäßigkeit der Tastenreaktion besonders wichtig. Während des Regulierens geht es also noch nicht um den Klang, sondern zunächst um die Spielbarkeit des Klaviers.

Besondere Aufmerksamkeit schenkt der Klavierbauer/-stimmer den so genannten Fängern der heute üblichen englischen Mechanik. Diese Fänger wirken wie Bremsen und fangen den Hammerkopf kurz nach dem Anschlag wieder auf. Dadurch kann der Pianist sofort wieder anschlagen, ohne die Taste ganz loslassen zu müssen. Dies dient der Geschwindigkeit des Spiels. Die Ausrichtung dieser Fänger ist Millimeterarbeit. Beim Aufsteigen des Hammerkopfes dürfen sie nicht streifen, müssen aber zugleich weich fangen.

Das Regulieren der Mechanik gehört zu den Routinearbeiten, bei denen an sich nicht viel passieren kann. Bis auf unbedeutende Kleinigkeiten wie z.B. wenn die Repetierfeder einer Taste nicht hundertprozentig einrastet, dann löst sie sich dann ganz aus ihrer Halterung. Wenn sie während eines Konzertes verstummt, ist dies der zur Realität gewordene Albtraum eines Klaviertechnikers. Dies passiert jedem Klaviertechniker bestimmt nur einmal im Leben und dann nie wieder. Auch Werkzeug im Instrument zu vergessen, gehört zu den Schreckenszenarien eines Klaviertechnikers.

Um eine gute Stimmung hinzukriegen, müssen immer wieder auch mechanische, technische Probleme gelöst werden.

Angewandte Mathematik.

Die Stimmung selbst ist letztlich nichts anderes als angewandte Mathematik, mit oder ohne technischem Gerät. Ausgangspunkt jeder Stimmung ist das „a", der Kammerton mit 440 Hertz pro Sekunde, der sich pro Oktave nach oben verdoppelt beziehungsweise in den Bass hinunter halbiert. Gestimmt wird nach Schwebungsdifferenzen. Dies sind die hörbaren Unterschiede von zwei Schwingungsquellen mit unterschiedlicher Schwingungsanzahl. So in etwa könnte man versuchen diesen Prozess des Stimmens einem musikalisch weniger Begabten näher zu bringen.

Der Trick dabei ist der, dass ein Klavier nie rein gestimmt ist, sondern von der Theorie um ein paar Zehntel abweicht. Mathematisch ausgedrückt bedeutet dies eine logarithmische Verzerrung zwischen zwei direkt nebeneinander liegenden Tönen zum Dikant und zum Bass. Andernfalls könnte man nämlich nicht alle Tonarten spielen. Diese Art der Stimmung wird als „gleichschwebend temperierte Stimmung“ bezeichnet. Sie geht auf den im ,7. Jahrhundert lebenden Andreas Werckmeister zurück. Erstmals umgesetzt wurde sie in Bachs Wohltemperiertem Klavier.

Pointiert gesagt: Damit ein Klavier richtig gestimmt ist, muss es ein wenig verstimmt sein. Das Lehrbuch weist die Oktave als einzig reines Intervall aus, dabei darf geschummelt werden, weil man anders die zwölf Halbtöne nicht unterbringen würde. Und manchmal wird auch die Oktave etwas gestreckt.

Ebenso wichtig wie das gute Gehör ist die gute Hand: Wird der Stimmhammer nicht richtig angesetzt, der Stimmnagel nicht richtig gedreht, sondern mehr gedrückt und gebogen, wird die Stimmung nicht lange halten. Deren Haltbarkeit gehört ohne dies zu den großen Unwägbarkeiten, weil sie sehr stark von vielen äußeren Bedingungen abhängig ist. Steigt die Luftfeuchtigkeit, verändert sich das ganze Klavier und mit ihm die ganze Stimmung.

Mit feiner Nadel.

Die Kür jedoch ist die Intonation eines Instrumentes. Die Bearbeitung der Hammerköpfe mit feinen Nadeln, um den Charakter, die Klangfarbe, die Kraft eines Klaviers herauszuarbeiten, dafür zu sorgen, dass es zwischen Piano und Forte, zwischen laut und leise noch viele andere Nuancen gibt. Die Intonation nimmt bei weitem am meisten Zeit in Anspruch, weil jedes Klavier – ähnlich wie auch der Mensch - anders ist, andere Stärken hat, an die man sich langsam herantasten muss.

Durch das Anstechen des Filzkopfes wird der Ton weicher, kann man Schärfen und Unreinheiten korrigieren. In welche Richtung gearbeitet wird, hängt in erster Linie vom Charakter des Instruments ab. Hat es eine kräftige Klanganlage, sollte man diese zulassen und fördern. Ist es eher schlanker, kann man das Klangbild runder gestalten, ein eher lyrisches Instrument gestalten.

Diese Beschäftigung mit dem Instrument dauert oft bis zu zwei und mehr Tage. Wenn es länger dauert, so hat dies ebenfalls seine Berechtigung. Man muss sich für diese Arbeiten unbedingt viel Zeit nehmen, wenn das Ergebnis entsprechend sein soll. Mit Gewalt und Stress geht gar nichts. Nur mit geduldigem, genauem Hinhören kommt man zu einem zufrieden stellenden Ergebnis.

Intonieren ist also weit weg von exakter Wissenschaft, und deshalb kann es durchaus vorkommen, dass nach getaner Arbeit am nächsten Tag jenes Instrument nicht mehr gefällt, an dem man noch am Vortag intoniert hat. Oder auch umgekehrt. Objektive Kriterien gibt es dafür keine, hier entscheidet einzig und allein das persönliche Klangempfinden des Individuums. Selbst erfahrene und lang jährige Klavierstimmer können in solchen Fällen kaum Genaueres sagen als: „Es klingt nicht gut“ Oder: „Es fehlt eben an Vielfalt, Farbe, Dynamik im Ton.“

Als Konzerttechniker freilich gilt es noch andere Größen zu berücksichtigen, etwa die Akustik des Saales und vor allem die Wünsche der Pianisten. Weil Künstler im sprachlichen Ausdruck aber fallweise weniger talentiert sind als im musischen, kommt es darauf an, zwischen den Zeilen herauszuhören, was der Künstler will. Eine Frage des gegenseitigen Verständnisses und der Erfahrung. Im Laufe der Jahre entwickelt sich ein Vertrauensverhältnis zwischen Techniker und Pianist, und die ganz leisen Zwischentöne zu hören, gehört eben auch zu diesem Beruf.

Und sitzt ein Klavierstimmer einmal in einem Konzert mit einem von ihm vorbereiteten Flügel, gehört sein Ohr meistens nur teilweise dem Pianisten als mehr dem Instrument. Denn die Arbeit eines Klavierstimmers ist halt immer nur eine Annäherung an den Idealfall.